Ilse Eichenbrenner in der Zeitschrift Soziale Psychiatrie:

 

 

 

Exzellente Lehrmeisterin

 

 

Ich sehe sie vor mir: Dorothea Sophie Buck-Zerchin, wie sie an ihrer Schreibmaschine sitzt und Briefe beantwortet. Sie runzelt mal besorgt die Stirn, dann wieder lächelt sie etwas verschmitzt. Sie kann tippen – das erwähnt sie in einem ihrer Briefe, sie hat es sich selbst beigebracht. Durch die Filme von Alexandra Pohlmeier kenne ich mich ein bisschen aus in ihrem Wohnzimmer und in ihrem schönen Garten. „'Dialog-Juwelen' aus dem Gartenhaus“ – so war ein Beitrag von Fritz Bremer und Hartwig Hansen in der letzten „Sozialen Psychiatrie“ überschrieben, in dem die beiden von ihrem überaus ambitionierten Projekt berichteten. Dieser Artikel, der übrigens mindestens dreimal gelesen werden sollte, führt auf vortreffliche Weise bereits hinein in Dorothea Bucks Lebenswerk und in den vorliegenden Briefwechsel. Er machte uns alle in der SP-Redaktion neugierig auf das Buch und mich als Rezensentin quasi überflüssig. Trotzdem griff ich danach und packte es in meinen Rucksack. Im Vorwort des schön gestalteten Bandes, dessen Cover natürlich ein handschriftliches Faksimile ziert, kommen die beiden Herausgeber noch einmal zu Wort, berichten über das Gartenhaus und erläutern ihr Vorgehen. Die Briefe, allesamt aus den Jahren 1990 bis 2000, sind chronologisch geordnet. Eine thematische Überschrift gibt einen ersten Hinweis und erleichtert das Auffinden, wenn man – wie ich – so manchen Brief ein zweites Mal lesen möchte. Ganz am Ende melden sich die beiden Herausgeber noch einmal zu Wort, kommentieren und sichten und ordnen die Korrespondenz ein letztes Mal. Ich schließe das Buch und meine Augen und setze mich vor meine schreibende Maschine. Nun also los.

 

Diese Frau ist ein Phänomen. Nach dem Erscheinen von „Auf der Spur des Morgensterns“ erhielt sie unzählige Briefe und beantwortete jeden einzelnen, nicht ohne sich zunächst zu entschuldigen für die bereits verstrichene Zeit. Doch dann nimmt sie Bezug auf die Bemerkungen und Fragen der Absender, Punkt für Punkt, Thema für Thema. Dabei nutzt sie ihre Lebensweisheit, aber auch ihre Autorität und ihre pädagogisch-therapeutische Kompetenz. Die mag sie in ihrer Tätigkeit als Kunstlehrerin an der Fachschule für Sozialpädagogik erworben haben, aber auch in unzähligen Selbsthilfegruppen und im Hamburger Psychoseseminar mit Thomas Bock. Ohne Zweifel ist sie ein Naturtalent. Viele Leserinnen und Leser werden nach dem Buch greifen, um mehr über Dorothea Buck und ihr Psychoseverständnis zu erfahren. Diese Erwartung erfüllt es in hervorragender Weise. Das Buch verschafft aber auch eine Ahnung von den unendlichen Anstrengungen psychisch und körperlich erkrankter Menschen und ihrer Angehörigen auf der Suche nach Antworten und Auswegen. Einige Schicksale ziehen an uns vorbei, die nicht so einfach zu verkraften sind. Man legt das Buch kurz zur Seite, atmet durch und liest dann doch weiter.

 

Nicht immer sind es Unbekannte, denen Dorothea Buck schreibt. Die Herausgeber Hartwig Hansen und Fritz Bremer haben auch einige Briefe ausgewählt, die dem Leser eine Ahnung von der mühevollen und so überaus erfolgreichen Arbeit des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) geben, dessen Ehrenvorsitzende sie ist. Haarklein und überaus konkret schildert sie, mit welchen Materialien (Linoldruckfarbe auf Klopapier) kostengünstig dekorative Briefkarten für den Verkauf produziert werden könnten – der Erlös geht natürlich an den BPE. In einem anderen Brief erläutert sie die Idee eines ganz speziellen Forschungsvorhabens, das mir durch das Hamburger Projekt zum subjektiven Sinn von Psychosen, kurz SuSi (T. Bock, K. Klapheck, F. Ruppelt, Sinnsuche und Genesung, Köln 2014), inzwischen kongenial umgesetzt zu sein scheint. Die Gartenhauskorrespondenz liefert Psychiatriegeschichte von oben und unten. Aber auch diesen Gesichtspunkt haben die beiden Herausgeber in ihrem Nachwort erwähnt. Bleibt nicht mehr viel übrig – für die Rezensentin.

 

Ich möchte mich begnügen mit dem didaktischen Aspekt der Antwortbriefe und das Buch empfehlen als ein außergewöhnliches, exzellentes und vermutlich einmaliges Lehrbuch. Gerade in Zeiten, in denen die schriftliche Beratung immer wichtiger wird, erscheint mir ein Grundkurs bei Sophie Zerchin unverzichtbar. Aber auch für den Face-to-Face-Kontakt lässt sich an diesem Modell lernen: Wann gehe ich auf die Inhalte ein, wann lasse ich Schilderungen respektvoll stehen, wann gebe ich konkrete Ratschläge, ohne den anderen zu erschlagen? Wie vermittle ich Hoffnung ohne billigen Trost?

 

„Liebe Frau Buck, ich habe Lust auf einen sonntäglichen Gedankendialog: Sie bekommen einen Gruß!“ (Frau Dr. W. am 22. August 1993).

 

In vielen Briefen wird der Wunsch deutlich, der Autorin des „Morgensterns“ etwas mitzuteilen, mit ihr zu kommunizieren. Durch die Lektüre des Buches kennt man ihre Gedanken, ihre Vorstellungen über Gott und Psychosen und die Welt und möchte gerade von ihr wahrgenommen und verstanden werden. Hier geht es häufig um differenzierte religiöse Fragen, wobei sich Frau Buck erstaunlich flexibel zeigt. Ob es wohl Gottes Wille sei, nie mehr Radio zu hören, wenn er sein Radio zerstört habe? Nein, meint Frau Buck, beinahe lakonisch: „Ganz sicher kann man das von Ihnen im Wutanfall zertrümmerte Radio nicht als ein 'aus dem Geist Gottes' kommendes Verhalten interpretieren. Ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist, dass Sie ohne Radio leben. Zum Beispiel hörte ich heute Morgen im 3. Radio-Programm eine sehr gute Sendung über Träume. Und wo sonst als sonntags morgens im 3. Programm hört man die Kantaten von J.S. Bach?“

 

Manchmal scheint es, als habe sie mindestens eine Ausbildung in klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie absolviert. Sie nimmt ihr Gegenüber ernst, greift jedes Anliegen auf, spiegelt und paraphrasiert und zeigt sich empathisch. Sie verliert sich nicht in Mitgefühl, sondern liefert Orientierung und Struktur. Sie unterscheidet klar zwischen den Wünschen nach Anerkennung auf Augenhöhe und der verzweifelten Suche nach Überlebenshilfe. Sie ist Analytikerin, Seelsorgerin oder Sozialarbeiterin, je nachdem, und verweist immer wieder auf die Selbsthilfepotenziale der Ratsuchenden. Sie nennt konkrete Anlaufstellen, Selbsthilfegruppen und Psychoseseminare in Wohnortnähe, legt Flyer und Ratgeber oder gleich ganze Kapitel (z.B. aus dem „Hand-werks-buch“) bei. Sie hat einen phänomenalen Überblick über alle Hilfsangebote. Oder in Sozialsprech formuliert: über alle Leistungen und Leistungsträger einer Region.

 

Manche Briefe erinnern mich mit etwas Schadenfreude an meine Tätigkeit im Sozialpsychiatrischen Dienst, und ich bin gespannt, wie Frau Buck reagieren wird. So gibt es in ihrem Buch einen Hilferuf aus wenigen, sich aber immer wiederholenden Zeilen: „Möchte nicht in Psychiatrie bleiben. Bitte für meine Entlassung einsetzen. Nicht in Psychiatrie bleiben.“ Beigefügt ist der Unterbringungsbeschluss des Vormundschaftsgerichts. Man sieht förmlich, wie sich unsere Therapeutin aufrichtet und mit strengem Blick das Chaos sichtet. Erstens, zweitens, drittens. Sie antwortet Punkt für Punkt und fasst zum Schluss noch einmal zusammen:

 

„Als 1. um Akineton bitten, wenn Sie es nicht inzwischen erhielten

 

Als 2. die Nagelbettentzündung behandeln lassen

 

Als 3. Ihre Bereitschaft erklären, die Ihnen von der Stadt zur Verfügung gestellte Wohnung zu beziehen. Das sind drei Voraussetzungen für Ihre Entlassung, die nicht so schwierig sein sollten.“

 

Dieses Buch ist also ein Lehrbuch für Beratung und Gesprächsführung, aber auch ein Lehrbuch zur neueren Geschichte der Psychiatrie, speziell der Psychosen, zu ihrer Behandlung und zum Sinn und Unsinn der Gabe von Neuroleptika. Weshalb sprachen und sprechen Psychiater (und Sozialarbeiterinnen!) nicht mit ihren Patienten über die Inhalte der Psychosen? Ist die Aufarbeitung immer sinnvoll, und wie kann sie aussehen?

 

Ach, ich könnte immer so weitermachen und höre am besten auf. Jetzt sind Sie am Zug. Runzeln Sie die Stirn, oder lächeln Sie verschmitzt. Schreiben Sie eine E-Mail, hauen Sie auf den Tisch, oder machen Sie sich eine Tasse Tee. Begeben Sie sich auf die Spuren von Lehrmeisterin Dorothea Buck und tun Sie es ihr nach, wo immer es möglich ist – aber lesen Sie dieses Buch. Vorher.

 

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