Rezension über das Buch von Uwe Timm:
Am Beispiel meines Bruders
Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, in: Brückenschlag, Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst, Band 20, Neumünster, Paranus Verlag, 2004
Allein in dieser ungeheuren Anstrengung
„Aber die Schwester wollte reden, sie wollte erzählen, von sich, vom Vater, von mir.
Wie war ich? Solange man diese Frage noch beantwortet bekommen kann, ist man immer noch ein Kind. – Anders. – Wie anders? Sie dachte nach, und nach einiger Zeit sagte sie: Du hast Löwen im
Gebüsch gesehen. Und dann hast du mit dem Stock rumgefuchtelt. Alle haben gelacht. Nur der Vater nicht, der hat den Löwen mit dir gesucht. Sie dachte nach, und ihr war anzusehen, daß nicht nur
das Sprechen ihr Mühe bereitete, sondern auch das Nachdenken, das Erinnern.“ (56)
Uwe Timm hat lange gewartet. Bis alle aus seiner Ursprungsfamilie – sein Vater, seine Mutter und seine große Schwester – gestorben waren. In der oben zitierten Szene besucht er sie in genau dem
Krankenhaus, in dem er selbst geboren worden war.
Uwe Timm muss viel nachgedacht haben, bevor er sich selbst der Last des Erinnerns ausgesetzt hat.
Seine Mühsal dabei ist dem niedergeschriebenen Text kaum anzumerken, und doch ist mein Hauptgefühl beim Lesen seines Buches die Hochachtung vor dieser Auseinandersetzung mit dem, was gewesen
ist.
„Seit ich an diesem Buch arbeite, seit ich lese, wieder und wieder, die Briefe, das Tagebuch, aber auch die Akten, die Bücher, seit ich Tag für Tag das Grauen lese, das Unfaßliche, habe ich
Augenschmerzen, erst am rechten Auge, ein Abriß der Hornhaut, einige Wochen später am linken, was sich wiederholte, jetzt zum fünften Mal, ein brennender unerträglicher Schmerz.
Ich, der einer Generation angehört, der man das Weinen verboten hat – ein Junge weint nicht –, weine, als müßte ich all die unterdrückten Tränen nachweinen, auch über das Nichtwissen, das
Nichtwissenwollen, der Mutter, des Vaters, des Bruders...“ (147)
Die Briefe, das Tagebuch sind die seines sechzehn Jahre älteren Bruders Karl-Heinz, der sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivison gemeldet hatte und 1943 19-jährig in der Ukraine an einer schweren
Verwundung verstirbt. Und der in der Folge, in der Nachkriegszeit das Familienleben mitprägte, obwohl er nicht mehr da war.
Uwe Timm geht 60 Jahre nach dem Tod des Bruders auf die Suche nach diesen Prägungen, den Familienwerten, den Alltagserlebnissen.
Zum Beispiel: „Eine Generation war politisch, militärisch, mentalitätsmäßig entmachtet worden, und sie reagierte beleidigt, mit Trotz, Verstocktheit. Später, mit dem Beginn des Kalten Krieges,
stärkten sich wieder die restaurativen Kräfte, aber zunächst, die ersten Jahre nach dem verlorenen Krieg, überlebte der Herrschaftsanspruch nur noch zu Hause, im Privaten.“ (70)
Das so gekonnt zusammengefügte Puzzle des Buches setzt sich aus vielen Teilen zusammen, aus eigenen Erinnerungen, Familiengeschichte(n), Traumsequenzen, Tagebuch- und Briefzitaten – und vor allem
aus solchen Reflektionen, Nachdenklichkeiten, Nachspürsätzen und -absätzen über das Schweigen, das Totschweigen, über die „Was wäre wenn-Gespräche“, über die, die das Nein gewagt haben... Die
Präzision, die Klarheit dieser (Ab)Sätze ist schlicht beeindruckend.
Uwe Timm hat ein kleines, großes Buch geschrieben.
Und er zitiert Sören Kierkegaard:
„Es kommt darauf an, daß einer es wagt, ganz er selbst, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch zu sein; allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und mit dieser
ungeheuren Verantwortung.“ (147)
Hartwig Hansen, Hamburg
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